Emily Wardill
Identical
2023, 16m
Screening: 23.–28. Nov. 2022, KW
Online: 29. Nov. 2022 – 30. Jan. 2023
Der Film Identical (2023) von Emily Wardill beginnt mit etwas Einfachem, Elementarem: dem faszinierenden Spiel von Licht auf Wasser. Die ersten Sekunden des Films zeigen den Augenblick, in dem das eine das andere bricht, reflektiert und verzerrt – und dadurch anders wahrgenommen wird. Diese diamanten glitzernden Spiegelungen sind auf zwei Bildschirmen gleichzeitig zu sehen. Dabei sind die Bilder zunächst nicht voneinander zu unterscheiden, bis sich der Fokus des Lichts vom Wasser auf etwas Festes, von der Abstraktion zur Figuration verschiebt und ein glänzender Körper zum Vorschein kommt, der sich dreht und verändert. Diese hypnotische Anfangssequenz kehrt in Identical mehrfach wieder und bringt direkt zum Ausdruck, worum es in der Installation geht: um Aufspaltung und Ausweitung und darum, wie sich verändernde Darstellungen auf unser Verständnis des Geschehens auswirken.
Wie bei der Entstehung allen zellulären Lebens geschieht „Aufspaltung“ nie nur auf einer einzigen Ebene. In Identical vollzieht sich die Teilung zweier Dinge auf sozialer, historischer und kultureller Ebene in potenziell doppelzüngiger Weise. Während der 16 Minuten, die die Installation auf zwei parallellaufenden Kanälen dauert, wird man von dem beklemmend-instinktiven Gefühl beschlichen, dass etwas nicht stimmt. Und tatsächlich bezeichnet Wardill selbst Identical als ein Werk voller Täuschung und Verführung, voller gaslighting und Desorientierung – schier sinnesüberwältigend. Während das Drama auf den Bildschirmen in Hotelzimmern und Korridoren, im Spitzensport und in der Freizeit seinen Lauf nimmt, schwillt in der Tonspur von Identical eine einzelne Gesangsstimme zu einem ganzen Chor an (der nach dem Prinzip der Fibonacci-Folge immer zahlreicher wird). Auch die Zeitebenen sind verzerrt: Kinder tun so, als wären sie erwachsen, während Erwachsene nur noch die Bewegungen aufblasbarer Roboter nachäffen oder mit ikonischen Momenten der Musik und des Films des 20. Jahrhunderts zusammengeschnitten werden. In den Filmcredits sind die Titel oft wörtliche Kommentare zu dem, was auf den Bildschirmen gezeigt und gesagt wird: Donʼt Look Now (Schau jetzt nicht hin), Sign Oʼ The Times (Zeichen der Zeit), First Time Ever I Saw Your Face (Das erste Mal, dass ich dein Gesicht sah), Tomorrow Never Knows (Niemand weiß, was morgen sein wird), um nur einige Beispiele aus Identical zu nennen.
Seit über 15 Jahren befasst sich Wardill mit imagined images (imaginierten Bildern): mit der Frage, was das ist, wofür sie verwendet wurden und welche Spuren sich in der Gegenwart von ihnen finden. Bei ihren frühesten Arbeiten ging es um farbige Glasfenster als mittelalterliches Kommunikationsmittel für Menschen, die des Lesens und Schreibens nicht kundig waren. In ihrem neueren Film Night for Day (2020) hingegen kehrte sie das titelgebende filmtechnische Verfahren der inversen Lichtsimulation mit dem Ziel um, technisch vermitteltes Sehen, Genderperformanz und imaginäre Utopien zu reflektieren. Wardills Filme evozieren neben Träumen und Abgründen der Populärkultur auch falsch erinnerte Geschichten und reihen die Geister, die sich in unsere persönlichen Erfahrungen einschleichen und soziale Beziehungen prägen, geschickt aneinander.
In Identical gehen die Erkundungen der Künstlerin über das imaginäre Bild hinaus, um eine Vielzahl von Sinneseindrücken voneinander abzugrenzen: was man sieht von dem, was man fühlt, und auch was erzählt wird von dem, was man hört und schlussfolgert. Wardill versucht das Gefühl der Desorientierung beim Betrachten von Identical zu ergründen, indem sie Gegensätzliches auf schwindelerregende Weise aufeinanderprallen lässt: links und rechts, Gewinner*innen und Verlierer*innen, Komödie und Tragödie, Proben und Erinnerung, oben und unten. Und die ganze Zeit über ertönt ein vertrauter Trommelschlag, der wie ein akustisches Lasso durch den Ausstellungsraum schwingt.
Der Künstlerin geht es nicht darum, dass Identical entschlüsselt oder auf die zahlreichen kulturellen Bezüge reduziert wird. Stattdessen ruft ihre Arbeit komplexe Narrative in Erinnerung, wenn sie zum Beispiel die Vertuschung einer gewalttätigen Vergangenheit andeutet (durch Bilder von nicht gekennzeichneten Massengräbern versklavter Menschen, die im portugiesischen Lagos auf dem Gelände eines Minigolfplatzes gefunden wurden) oder das schwindelerregende Gefühl auslöst, im Galerieraum selbst überwältigt zu werden.
„Die Form spricht zu dir“, sagt Wardill und verweist damit auf den Bezug von Identical zum „Expanded Cinema“, einer multimedialen Kunstform, die in den 1960er- und 1970er-Jahren entstand. Jenes Expanded Cinema war ein Vorläufer der heutigen Netzwerkkultur, das formale Elemente der Seherfahrungen in Kino und Fernsehen analysierte und sich mit Theorien eines bewusstseinserweiternden, ego-losen Geisteszustands beschäftigte. „Das Expanded Cinema wollte nicht zuletzt auf Strukturen aufmerksam machen“, sagt die Künstlerin, „die Struktur des Blicks, die den einen aktiv und den anderen passiv sein lässt, so wie wohlmeinende Erzählungen, die verbergen, wovon wir nichts erfahren sollen.“
Wardill wirft mit ihrer Arbeit die Frage auf, ob das Expanded Cinema verändert werden kann – und zwar in einer Weise, dass es unsere Aufmerksamkeit auf die gesellschaftliche Orientierungslosigkeit unserer Zeit lenkt und ihr zugleich entgegentritt, analog zu der Wassersequenz am Beginn von Identical, wo zwei Dinge sich gegenseitig beleuchten und verzerren. Darüber hinaus zeigt die Installation, dass sich Gewalt stets ebenso nach innen wie nach außen richtet. Obwohl nie explizit gezeigt, ziehen sich Andeutungen physischer Angriffe – auf Kopf, Gliedmaßen und Rumpf – ebenso durch das Werk wie visuelle Hinweise auf Blut und Knochen. Währenddessen sind Stimmen zu hören, die die traumatische Erfahrung eines Gedächtnisverlusts beschreiben.
Identical zeigt in einer Sequenz, wie sich ein Elefant mit den Knochen seiner Vorfahren beschäftigt (die Wissenschaft vermutet, dass es sich dabei um eine tierische Form der Trauer handelt). Diese Verhaltensweise stellt die Künstlerin menschlichen Händen gegenüber, die gleichgültig mit in 3D-Druck hergestellten Knochen spielen und diese zusammensetzen. Bei diesem Vergleich geht es um Assoziation und Dissoziation, Verbindung und Trennung. Indem sie beide Zustände kombiniert, versucht Wardill, einen anderen Raum zu kreieren – eine vielstimmige Erfahrung, die sich weigert, nur das eine oder das andere zu sein.
— Mason Leaver-Yap
Über den*die Künstler*in
Emily Wardill lebt und arbeitet in Lissabon, Portugal. Ihre Arbeiten wurden international in folgenden Institutionen ausgestellt: Secession, Vienna; Gulbenkian Project Spaces, Lissabon; SMK, Kopenhagen; de Appel, Amsterdam; MIT List Centre, Boston; ICA, Serpentine, and Hayward, London; Biennale de l’Image en Mouvement, Genf; und MUMOK Vienna. Im Jahr 2010 wurde Wardill mit dem Jarman Award und im folgenden Jahr mit dem Leverhulme Award ausgezeichnet. Zuletzt gewann sie den EMAF Award im Jahr 2021. Wardill nahm an der 54. Biennale von Venedig, der 19. Biennale von Sydney und an GHOST 2565 im Jahr 2022 teil. Die Lehre ging stets Hand in Hand mit ihrer künstlerischen Praxis und sie arbeitete als Professorin an der Kunstakademie Malmö; die Universität der Künste, Helsinki; Universität von British Columbia; Goldsmiths und Central Saint Martins, London; Akademie der Bildenden Künste, München; Schule des Art Institute Chicago; Städelschule, Düsseldorf; und das CCA San Francisco. Derzeit promoviert sie an der Kunstakademie Malmö, Schweden.
Credits
2-Kanal-Videoinstallation, 5.1 Surround-Sound
Regie, Schnitt, Skript, Filmmusik
Emily Wardill
Produzent*innen
Anzˇe Peršin, Mason Leaver-Yap, Emily Wardill
Schnittassistenz
Miguel Faro
Tanz und Co-Choreographie
Andre Cabral, Gonçalo Cabral, Andresa Soares, David Marques
Off-Stimmen
Ruth Wilson Gilmore, Israel Rosenfield, Wren and Rita Barby Wardill, Ragnar Kjartansson, Diogo Ferreira
Gesang
Nazaré da Silva, Josina Filipe, Aida Rosa, Elena La Conte, Gustavo Paixão, Alberto Araújo, Miguel La Feria, Felipe Corrêa, Diogo Ferreira
Chorleitung
Aixa Figini
Assistenz Arrangement
Ariel Rodriguez
Performer*innen mit Elefant
Nathan Barlex, Darren Phizacklea, Saul Albert
Schlagzeug Modelling
Marc Shearer
Ton
Dominic Fitzgerald
Kamera
Luis Branquinho, Artur Castro Freire, Emily Wardill, Gonçalo Cabral
Animation
Muhammed Abid Hussain
Besonderer Dank an
AIR 351 Residency, James Newitt, Paulo Pereira, Dom Carlos Hotéis, Kerstin Stakemeier, Pino Donaggio, carlier | gebauer, Amando and Maria Cabral
Samples
‘John’s Theme’, Pino Donaggio, Don’t Look Now, 1973
‘That lovin’ feeling’, The Righteous Brothers, 1965
‘The First Time Ever I Saw Your Face’, Ewan MacColl and Peggy Seeger, 1957, and Roberta Flack, 1972
‘Losing My Religion’, R.E.M., 1991
‘Tomorrow Never Knows’, The Beatles, 1966
‘Sign O’ The Times’, Prince, 1987
Archivaufnahmen
The Legend of Tim Tyler: The Boy Who Lost His Laugh, 1979, dir. Sigi Rothemund
The Crown, 2017, dir. Peter Morgan
‘Pro Putting Garden Lagos’, 2014, promotional video, Algarve Travel TV, YouTube
The Perfect Storm, 2000, dir. Wolfgang Petersen
The Shining, 1980, dir. Stanley Kubrick
‘Quantum vortices in Superfluid Helium’, 2011
Enrico Fonda and University of Maryland, YouTube ‘Child robot can be taught just like a human 4-year-old’
Insider Tech, YouTube, 2017
Wasserspringer*innen
Shi Tingmao, Thomas Daley, Matty Lee
In Erinnerung an Israel Rosenfield
Partner*innen
Emily Wardills Identical ist eine Produktion von Stenar Projects. Im Auftrag und ko-produziert von KW Institute for Contemporary Art. Projekt in Zusammenarbeit mit der Calouste Gulbenkian Foundation.