Andrea Büttner
What is so terrible about craft? / Die Produkte der men­schlichen Hand
2019, 34m

Zwei Videostills sind horizontal nebeneinander angeordnet. Auf der linken Seite ist eine Ansicht aus einer traditionellen katholischen Kirche oder Kathedrale zu sehen, die von einer Kirchenbank aus aufgenommen wurde. Die Kamera fängt einige weiß gekleideten Nonnen- und Mönchsfiguren ein, die vor einem Altar stehen und der Kamera den Rücken zuwenden. In der ersten Kirchenbankreihe sitzt ein älterer glatzköpfiger Mann, der seinen Kopf nach unten senkt. Auf der rechten Seite ist eine Nahaufnahme eines Kaufhausregals zu sehen, auf dem teure weiße Designer-Porzellankannen mit minimalistischen Griffen und ein Kaffeefilterhalter stehen. Die beiden Bilder scheinen sich gegenseitig zu spiegeln.

Was ist so grauenvoll am Handwerk, ist die Frage, die Andrea Büttners neuer Zweikanal-Videoarbeit vorangestellt wird. Je nach Ansatz und Disposition der Leser:innen geht Büttner davon aus, dass entweder das Handwerk bereits grauenvoll (und zwar „so grauenvoll“) ist oder dass es sich bei dem Titel eigentlich um eine rhetorische Frage handelt, die das Handwerk von seinem vermeintlichen Grauen zu befreien sucht. Jedenfalls wird in beiden Fällen die Beziehung zwischen Handwerk und Grausamkeit noch bereits vor Beginn des Videos hergestellt.

Büttners Praxis beschäftigt sich mit den kulturell verwobenen Geschichten von Ästhetik und Wertigkeit. Ihre Glasmalereien, Holzschnitte und ungebrannten Tonskulpturen wurden sowohl als Aufnahme von, wie als Kritik an den bescheidenen, unmodernen und traditionellen Aspekten handwerklicher Methoden beschrieben. Ihre Videos setzen sich mit historischen Bezügen des Handwerks zu Spiritualität auseinander. Jedoch ist Büttner skeptisch gegenüber der scheinbaren Bescheidenheit des Handwerks. Die Arbeit What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand exponiert die dünne Schicht der vermeintlichen Höflichkeit und Zugänglichkeit, die sich das Handwerk als Tarnung für seine materialistischen Fähigkeiten zugelegt hat.

Handwerk ist ein politisches Feld und seine Geschichte ist untrennbar mit der Konstruktion nationaler Identitäten verbunden: Von der Neuorientierung reaktionärer politischer Bewegungen in Richtung des Regionalen oder „Lokalen“ als Lösung gesellschaftlicher Unzufriedenheit (beispielsweise dem Versuch der Arts-and-Crafts-Bewegung, das soziale und wirtschaftliche Leben der Menschen in Opposition zum industriellen und modernen Kapitalismus zu reformieren) bis hin zum Einsatz des Handwerks nach dem Zweiten Weltkrieg als kollektive Erfahrung, um das Trauma des Krieges zu heilen. Kritik am Handwerk ist immer auch Kritik an Nationalismen. 

Dem zweiteiligen Titel folgend, präsentiert das Video parallel zwei deutsche Interieurs. Nach der anfänglichen Frage, What is so terrible about craft?, ist auf der linken Seite eine Kirche zu sehen. Auf der rechten Seite folgen dem zusätzlichen Titel, Die Produkte der menschlichen Hand, der als Gegenstück und bittere Antwort auf die Eingangsfrage dient, Aufnahmen eines gehobenen Warenhauses mit seinen Luxusprodukten. Beide Projektionen verfolgen unterschiedliche Objekte an beiden Orten und finden jeweils einander ähnliche Gegenstücke, gleiche Muster und dokumentieren austauschbare menschliche Interaktionen zwischen spirituellem Ort und kommerziellem Zentrum. Diese Nebeneinanderstellung steigert sich allmählich zu einem verheerenden algorithmischen Vergleich. 

Die beiden (Innen-)Räume verbindet nicht nur der gemeinsame Standort der Stadt Köln. Sie sind auch durch die einzige Stimme im Video miteinander verbunden: die einer Nonne, deren geistige und berufliche Arbeit bis vor kurzem zwischen diesen beiden Welten aufgeteilt war. Sie beschreibt ihre Berufung, ihre Arbeit und Wünsche. Und obwohl die Kamera eine Gruppe von Nonnen beim Gebet dokumentiert, behält die Erzählerin den gesamten Film hindurch eine schattenhafte Präsenz. Eine weitere Figur, die am Rande von Büttners Videoarbeit auftaucht, ist die des Geistes von Karl Marx. Dieser scheint nicht nur im deutschen Titel wieder auf – einem direkten Zitat des Philosophen –, sondern auch in der Art, wie das Zitat als Name des Warenhauses selbst fungiert: Manufactum. 

Die Tradition des Handwerks ist durchdrungen von Lebens- und Seinsmodellen. What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand beginnt mit einer Frage und fährt mit dieser weiteren fort: Wem dienen diese Modelle und zu welchem Zweck?

Über die Künstlerin

Andrea Büttner (geboren 1972, Stuttgart, DE) lebt und arbeitet in Berlin. In ihrer Praxis verbindet sie Kunstgeschichte mit sozialen und ethischen Fragen und erforscht dabei so unterschiedliche Themen wie Armut, Arbeit, Gemeinschaft, Glaube, Botanik, Katholizismus und Philosophie. Ihre Arbeit basiert auf umfassenden Recherchen zu bestimmten Bereichen oder Situationen und wird durch verschiedene Formate wie Druckgrafik, Skulptur, Malerei, Weberei, Fotografie und Video artikuliert.

Büttner kam 2017 in die engere Auswahl für den Turner Preis und ist Preisträgerin des Max-Mara-Kunstpreises für Frauen 2009. Zu ihren ausgewählten Einzelausstellungen zählen Shepherds and Kings, Bergen Kunstall, Bergen, NO (2018); Hammer Projects: Andrea Büttner, Hammer Museum, Los Angeles, US (2017); Beggars and iPhones, Kunsthalle Wien (2015); Andrea Büttner, Walker Art Center, Minneapolis, US (2015); Spotlight: Andrea Büttner, Tate Britain, London (2014); Andrea Büttner. 2, Museum Ludwig, Köln, DE (2014); Andrea Büttner, MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt, DE; The Poverty of Riches, Whitechapel Gallery, London / Collezione Maramotti, Reggio Emilia, IT (2010). Büttner nahm an der Documenta 13 (2012) sowie an der 29. und 33. Biennale von São Paulo, BR (2010 und 2018) teil. Zu ihren jüngsten Gruppenausstellungen gehören On Vulnerability and Doubt, Australian Centre for Contemporary Art, Melbourne, AU (2019); Tell me about yesterday tomorrow, NS Dokumentationszentrum München, DE (2019); die Turner Prize-Ausstellung, Ferens Art Gallery, Hull, GB (2017) und die British Art Show 8, Wanderausstellung GB (2016). Ihre Werke befinden sich in den ständigen Sammlungen zahlreicher Institutionen, darunter dem Museum of Modern Art, New York, US; Tate, London; Centre national des arts plastiques, Paris; Sammlung zeitgenössicher Kunst der Bundesrepublik Deutschland, Bonn; MMK Museum für Moderne Kunst, Frankfurt; Museum Ludwig, Köln; Lenbachhaus, München, DE; Museo Nacional Centro de Arte Reina Sofía, Madrid und Walker Art Center, Minneapolis.

Sie hat mehrere Künstler:innenbücher veröffentlicht, darunter zuletzt The Book of Vagabonds: Der Mendecant-Orden (2019). Büttners Buch Shame wurde im Herbst 2020 bei Koenig Books veröffentlicht.

Online Gespräch: Andrea Büttner zu Shame, 2. Dezember 2020

Von Scham und Schamhaftigkeit bis hin zu Schamvermeidung und Schamlosigkeit beeinflusst die Erfahrung von Scham unser Sozialverhalten, unsere Entscheidungsfähigkeit und unsere Wünsche. Scham bestimmt, was wir zeigen und was wir verbergen. Doch was prägt das Erscheinungsbild von Scham als eine Emotion, die unerkannt bleiben will? Wie interagiert Scham mit dem Sichtbaren, und wo taucht sie in der visuellen Kultur auf?

Im Gespräch mit Mason Leaver-Yap, Herausgeber:in und assoziierte Kurator:in der KW, verhandelt Andrea Büttner Definitionen und Darstellungen von Scham, sowie die historische und aktuelle Analyse der Ästhetik und Macht von Scham und stellt ihr lang erwartetes Buch Shame (Koenig Books, 2020) vor.

Shame kann über den Online-Shop der KW bestellt werden.

Weißer Bucheinband mit orangefarbenem Buchrücken. Der zentrierte Titel am oberen Rand des Buches ist in einer Serifenschrift gehalten und lautet "Shame" in Schwarz und "Andrea Büttner" in Orange. In der Mitte des Einbands befindet sich ein diffuser orangefarbener Kreis, der das Bild eines Flecks, einer Errötung oder einer Effloreszenz sein könnte.

Partner:innen

Andrea Büttners What is so terrible about craft? / Die Produkte der menschlichen Hand ist eine Auftragsarbeit der KW Institute of Contemporary Art, Berlin, die mit der Unterstützung der Julia Stoschek Collection und Outset Germany_Switzerland realisiert wurde. Die Ausstellungspremiere wurde in Zusammenarbeit mit dem Kunstverein München vom 23. November – 1. Dezember 2019 präsentiert.