Jamie Crewe
Pastoral Drama
2018, 30m

Eine Pastellzeichnung eines grasbewachsenen Hügelgipfels bei Sonnenuntergang. Der Himmel wogt von oben nach unten in Dunkelblau, Hellblau, Rot, Violett, Orange und Gelb. In der Ferne glitzert ein gelber Stern. Im Vordergrund scheint sich der steinige Gipfel des Hügels zu einer halb geballten menschlichen Faust zu formen, in deren Mitte eine verdunkelte Höhlenöffnung auftaucht. Zwei winzige menschliche Figuren scheinen sich der Bergspitze zu nähern und in Richtung der Höhlenöffnung zu gehen.

Jamie Crewes neue Arbeit besteht aus zwei parallel laufenden Videos, die sich der Allegorie und Animation bedienen, um über „Fortschritt“ nachzudenken. Bezug­ nehmend auf den altgriechischen Mythos Eurydikes und der Oper Eumelio von Agostino Agazzari aus dem 17. Jahrhundert, in der die titelgebende, männliche Hauptfigur für Eurydike einspringt und dadurch das Schicksal zu wenden vermag, betont die Videoarbeit den Unterschied zwischen einem Jüngling und einer Frau und imaginiert den Untergang einer mythischen Vergangenheit.

Pastoral Drama wurde im Verlauf eines Jahres chronologisch gefilmt. Crewe setzt darin komplizierte Tusche­ und Bleistiftzeichnungen, gesprenkelten Ton, krustiges Knetgummi, Anhäufungen von Flechten und Glitter sowie verlaufende Tusche ein, um die parallelen Erzählungen von Eurydike und Eumelio zu konstruieren. Die Charakteristika beider Figuren entsprechen jenen der einundzwanzigjährigen Künstler:in mit übertriebenen männlichen und weib­lichen Attributen – andere Figuren stehen hingegen in der Tradition klassischer Bildhauerei.

Als Resultat eines monatelangen Denk-­ und Produktionsprozesses wird das filmische Doppel­-Narrativ von Themen wie Regelsetzung, dokumenta­rischer Moral, schauerlichen Zwitterwesen, dem Körper als Hölle, von Transgender­Subjektivität, der Exilierung Homosexueller und Doppeldeutigkeiten gleichsam aufgewühlt. Gegen Ende verblasst eine der Geschichten, während sich die andere in Klamauk und Katastrophen verliert.

Pastoral Drama untersucht unterschiedliche Formen des Sehens und Wissens, die Katastrophen oder gar die Auslöschung verletzlicher Personen auslösen, wenngleich der Film in seinen optimistischsten Momenten auch erprobt, wie etwas Zerbrechliches und Verletzliches mutig in die Zukunft voranschreiten kann.

 

Über die Künstlerin

Jamie Crewe ist eine wunderschöne Figur aus Bronze mit einem polierten Kokottenkopf, die im Peak District aufgewachsen ist und sich nun in Glasgow niedergelassen hat. Sie schloss ihr Studium an der Sheffield Hallam University 2009 mit einem BA in Contemporary Fine Art ab und später an der Glasgow School of Art im Jahr 2015 mit einem Master of Fine Art. Sie hat mehrere Einzelausstellungen präsentiert: Solidarity & Love, Humber Street Gallery, Hull (2020); Love & Solidarity, Grand Union, Birmingham (2020); Pastoral Drama, Tramway, Glasgow (2018); Female Executioner, Gasworks, London (2017); und But what was most awful was a girl who was singing, Transmission, Glasgow (2016). 2019 wurde die Künstlerin mit dem Margaret Tait Award ausgezeichnet; die daraus resultierende Auftragsarbeit Ashley wird im März 2020 beim Glasgow Film Festival uraufgeführt.

Leuchtend gelbes Papier, beschriftet mit handgezeichneten Texten in verschiedenen Stilen und Maßstäben. "Hölle & Unterdrückung" steht quer über die Mitte des Bildes geschrieben und ist von kunstvoll handgemalten Profilen menschlicher Köpfe umgeben.

Jamie Crewe, Kopien eines Skizzenbuches und Ephemera von Suzan Pitt, 2018. Installationsansicht in der Ausstellung KW Production Series, Julia Stoschek Collection, Berlin, 2018. Courtesy: Jamie Crewe. Sammlung: Museum Abteiberg. Foto: Frank Sperling.

Online Gespräch: Jamie Crewe zu Pastoral Drama, 19. Mai 2021

 
Im Gespräch mit Mason Leaver-Yap lässt die Künstlerin Jamie Crewe drei Jahre nach der Entstehung von Pastoral Drama ihre Inspirationen und Beweggründe für die Arbeit Revue passieren. Sie reflektiert darüber, was es bedeuten könnte, mythische Akte des Rückzugs zurückzugewinnen sowie die Grenzen der Homosozialität und Darstellungen des Fortschritts aufzuzeigen. (Dauer: 45m)
"BEDINGUNGEN I ICH BIN KEIN MANN. SPRICH MICH NICHT ALS MANN AN ODER BEZEICHNE MICH ALS 'ER', 'IHM', 'KNABE', 'JUNGE' ODER EINEN ANDEREN MÄNNLICHEN BEGRIFF. WENN DU MICH AUF DIESE ART UND WEISE ANSPRICHST, WIRD DIES ZUM VOLLSTÄNDIGEN RÜCKZUG FÜHREN. WENN FAMILIENMITGLIEDER MICH ALS "ER", "IHM" ETC. BEZEICHNEN, MUSST DU SIE KORRIGIEREN. DIE KONSEQUENZ, WENN DU DAS NICHT TUST, IST MEIN VOLLSTÄNDIGER RÜCKZUG. WENN ICH DIR ERLAUBE, MEINEN KÖRPER IN IRGENDEINER WEISE ZU BERÜHREN, BERÜHRST DU KEINEN MÄNNLICHEN KÖRPER. ICH WILLIGE NICHT IN SCHWULEN SEX EIN. WENN DU SCHWULEN SEX MIT MIR HAST, WERDE ICH DAS WISSEN UND MICH VÖLLIG ZURÜCKZIEHEN. WENN DU MICH ZU IRGENDEINEM ZEITPUNKT ALS MANN (ODER 'JUNGE', 'BURSCHE', ETC.) VERSTANDEN HAST, HAST DU DICH GEIRRT. WENN DU MICH ZU SEX ODER EINER BEZIEHUNG MANIPULIERT HAST, BASIEREND AUF DEINEM VERSTÄNDNIS VON MIR ALS Z.B. EINEM SCHWULEN PUNK ODER EINEM PUMMELIGEN JUNGEN, HAST DU DICH GEIRRT. AKTUALISIERE DEINE AUFZEICHNUNGEN ENTSPRECHEND UND GIB MIR MEINE BESITZTÜMER ZURÜCK. NICHTS, WAS ICH TUE, IST SYMPTOMATISCH FÜR IRGENDEINE FORM VON EXTRAVAGANTER MÄNNLICHKEIT, DIE DU VIELLEICHT KENNENGELERNT ODER DIR VORGESTELLT HAST. MICH AUS IRGENDEINEM GRUND ALS MÄNNLICH ZU BETRACHTEN, AUCH AUF DIESE ART, STELLT EINEN FATALEN BRUCH UNSERER VEREINBARUNG DAR UND WIRD MICH IN DEN GINSTER FLIEHEN LASSEN. WENN ICH ZUM BEISPIEL ANLASS HATTE, MICH BEI DEINER ANNÄHERUNG UNTER EINEM SCHLAFSACK ZU VERSTECKEN ODER BARFUSS AUF DEN ÖRTLICHEN FRIEDHOF ZU RENNEN, WENN DU DURCH DIE HAUSTÜR KOMMST, DARFST DU MICH NIEMALS SEHEN, DARFST DU NIEMALS MIT MIR SPRECHEN, ICH MÖCHTE, DASS DU NICHTS ÜBER MICH WEISST. WENN ICH HERAUSFINDE, DASS DU MICH GESEHEN HAST ODER ETWAS ÜBER MICH WEISST, UND VOR ALLEM, WENN DU JEMALS VERSUCHST, MIT MIR ZU REDEN, WERDE ICH MICH IN DIE HÖLLE ZURÜCKZIEHEN."

Jamie Crewe, Terms, 2018. Courtesy: die Künstlerin.

Lichtspiele: Bucolic Coda, Pogo Bar, KW, 1. November 2018

Folded A5 cover of b/w photocopied program notes, inset with an ornately hand-painted abstract watery image at the centre of the page. Times New Roman text reads: BUCOLIC CODA / Films and readings, programmed by Jamie Crewe, that have informed 'Pastoral Drama', their new moving image work / 21:00–22:00 / November 1st 2018 / Pogo Bar / KW Institute for Contemporary Art / Auguststrasse 69 / 10117 Berlin

 

Bucolic Coda war ein besonderer Abend mit Animation, Film und Lesung, zusammengestellt von Jamie Crewe, Künstlerin der KW Production Series. Gezeigt wird umfangreiches Material, das über Crewes Auftragsfilm Pastoral Drama, 2018, informiert. Der Abend umkreist Themen wie Reisen, Rückkehr, gewaltsame Veränderungen und Entrechtung, die durch das Interesse an experimenteller Animation miteinander verbunden sind. Präsentiert werden Filme von Margaret Tait, Suzan Pitt, Jim Blashfield, Eugene Salandra Curtis Harrington und Texte von Marie NDiaye. [Programmhinweise]

 

Partner:innen

Jamie Crewes Pastoral Drama ist eine Auftragsarbeit der KW Institute of Contemporary Art, Berlin, und Tramway, Glasgow; mit Unterstützung der Julia Stoschek Collection und Outset Germany_Switzerland.